Erinnerungen an einen Dienstag im September vor zwanzig Jahren

Kommentar

Wenn ich durch die Brille unseres Informationszeitalters zurückblicke, bietet uns der 11. September wertvolle, bis heute noch nicht beherzigte Lehren.

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A white rose on the 9/11 Memorial in New York

Wir Kinder dieser Ära verarbeiten heute noch die Heftigkeit der Erfahrungen dieser Tage, bestehend aus Stunden voller Empfindungen. Wer den 11. September 2001 als Schulkind in New York City erlebt hat, hat in vielen Fällen zunächst gespürt, wie sich das Verhalten der Lehrer/innen veränderte, dann wurde eine entweder verstörende oder einfühlsam gehaltene Schulversammlung einberufen und dann wurde man vorzeitig nach Hause geschickt. Meine Grundschule befand sich in der Bronx, wo meine Großeltern wohnten. Sie waren es also, die mich und ein paar Freund/innen von der Schule abholten und dann auch bei sich übernachten ließen. Wir saßen vor dem Fernseher, schauten die Nachrichten mit den immer gleichen Bildern und aßen Makkaroni mit Käse.

Wenn ich mir heute, zwanzig Jahre später, die Folge der Daily Show mit Jon Stewart noch einmal ansehe, die ich 2001 als zehnjähriges Kind gesehen habe, erinnere ich mich daran, dass Jon erzählte, wie er als Kind am Tag der Ermordung von Martin Luther King in Newark im verdunkelten Klassenzimmer unter seinem Pult saß und Hüttenkäse aß. Draußen herrschte Aufruhr, was die Schulkinder aber weder wissen noch begreifen konnten. Der Vergleich hinkt etwas, aber wenn wir an diese weltbewegenden Tage im Jahr 2001 zurückdenken, erinnern wir uns daran, was wir gegessen haben, und an die ungewöhnlichen Orte, an denen wir an diesem Tag gelandet waren.

Was ich mit all dem sagen will: Wenn Kinder historische Ereignisse nicht begreifen können und vor allem verarbeiten, dass für sie wohl Unterricht ausfällt, ist das verzeihlich. Wenn man in den Jahren nach 2001 aufgewachsen ist, hat man den größeren Kontext erst später verstanden und Informationen aus anderen Quellen erhalten, darunter: Nachrichten, Politiker/innen, Eltern und Lehrer/innen, Geschichts- und Religionsunterricht in der Schule, Gleichaltrige, Popkultur und Internet - um nur einige zu nennen. Es ging darum, etwas Abstand zu gewinnen, die Informationen analytisch zu verarbeiten und dabei hoffentlich herauszufiltern, welche Informationen wahrheitsgetreu erschienen, denn das waren sie nicht immer.

Die Erinnerungskultur für Menschen meiner Generation in den USA, die ja für ihre große Vielfalt bekannt sind, ist schwer zu beschreiben. Ich glaube, dass sie in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme von der allgemeinen Kultur darstellt, die ja immer noch stark nationalistisch geprägt ist und das Gedenken an den Verlust amerikanischer Leben an diesem Tag und in den darauf folgenden Konflikten höher stellt. Aber aus meiner besonderen Perspektive als progressive jüdische Frau, die in der Upper West Side aufgewachsen ist, kann ich auf einen bestimmten Text verweisen.

Einige Tage nach dem Ereignis beschrieb Susan Sontag in The New Yorker den 11. September als „einen Angriff auf die selbsternannte Supermacht der Welt als Folge bestimmter amerikanischer Allianzen und Handlungen“. Sie fragte, wie viele Amerikaner/innen sich der damals laufenden amerikanischen Bombardierung des Irak bewusst seien, und schloss mit den Worten: „Uns wird immer wieder gesagt, ‚unser Land ist stark‘ ... Wer zweifelt daran, dass Amerika stark ist? Aber Amerika muss noch mehr sein als das.“

Unmittelbar nach einer erschütternden Tragödie so klarsichtig zu sein, erfordert bewundernswerte Intelligenz und Willenskraft. Zahllosen anderen Reaktionen fehlte diese Größe, diese globale Sicht, die diesen Tag in einen internationalen Kontext von Machtbeziehungen und westlichem Imperialismus stellte und eine maßvolle anstelle einer rabiaten Reaktion forderte.

Ich sehe mich zwar nicht als Autorität, was das Verhältnis meiner Generation zum Gedenken an den Tag und seine Folgen angeht, doch kann ich etwas darüber sagen, wie ich ihn im Lauf der Jahre zu verarbeiten versucht habe, und welche besondere Rolle die Medien und Technologie dabei gespielt haben.

Da unsere Generation auch mit dem Internet aufgewachsen ist, ist der 11. September untrennbar mit diesem besonderen Informationskanal und seinen transformativen und verzerrenden Wirkungen verbunden. So sehr, dass mir die ersten Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Anschlag noch aus meiner Jugendzeit im Gedächtnis geblieben sind. Es gibt da bestimmte Phrasen, die zu Memes geworden sind. Diese werde ich hier nicht wiederholen, da die Wertigkeiten von Humor und surrealer Absurdität besonders furchtbar wirken, wenn man sie der Schwere des 20. Jahrestages und den ernsthaften Bemühungen um Erinnerung und um eine Auseinandersetzung mit den Folgen gegenüberstellt. Aber diese Art zu sprechen und zu denken gehört auch dazu und stellt eine Dimension solcher Ereignisse dar, die oft zu wenig diskutiert wird.

Für mich als jemand, die einige Jahre lang als Reporterin für eine Online-Nachrichtenseite gearbeitet hat, sind diese Inkongruenz und Spannung (die Memifizierung einer Tragödie und ihre Vereinnahmung durch Verschwörungstheoretiker) sehr akut. Von 2015 bis 2019 bestand meine Aufgabe teils darin, Fake News, Betrügereien und Hoaxes zu identifizieren, die unweigerlich nach menschengemachten wie auch natürlichen Katastrophen und Unglücksfällen auftauchen.

Seit 2001 ist es nur noch schwieriger geworden, Fakten von Fiktion, Propaganda von Analyse, Übertreibungen von ernst gemeinten Behauptungen zu unterscheiden. Mit der zunehmenden öffentlichen und privaten Überwachung, der Monetarisierung privat erhobener Daten und dem Einsatz von Algorithmen auf Social-Media-Websites zur Steigerung von Traffic und „Engagement“ hat auch die politische Polarisierung zugenommen. Silo- und Echokammer-Effekte haben sich vervielfacht.

Als Kind von heute braucht man eine Medienkompetenz, die ein Kind aus dem Jahr 2001 kaum begreifen könnte. Auf YouTube, Facebook, Instagram, TikTok und Twitter wimmelt es nur so von Fehlinformationen und Desinformationen und weder die Plattformen noch staatliche Aufsichtsbehörden haben bislang herausgefunden, wie man die Realität so filtern kann, dass die Qualität der verbreiteten Informationen gewährleistet wird. In gewisser Hinsicht ist die Demokratisierung von Informationen ein positiver Trend. In anderer Hinsicht bedeutet es aber auch, dass ein Großteil des Landes aneinander vorbeiredet. Das ist einer der Gründe, warum mir unwohl dabei ist, auch nur ansatzweise für eine ganze Generation sprechen zu wollen. Kurioserweise teile ich diese Skepsis wahrscheinlich mit meinen republikanischen Pendants, die nicht einmal ansatzweise behaupten würden, meinen Standpunkt angemessen vertreten zu können.

Auch Vertrauen scheint bei der Bewertung von Online-Nachrichten und -Meinungen nach wie vor ein Angelpunkt zu sein. Habe ich damals als Zehnjährige in jenen Septembertagen meinen Eltern vertraut, die mir erklärten, was vor sich ging? Implizit schon. Als ich älter wurde, lernte ich, der Regierung und einigen Medien zu misstrauen und dem, was ich las und hörte, mit großer Skepsis zu begegnen, weil ich sah, wie der Staat aus der Tragödie und dem Trauma Kapital schlug und beides für politische Zwecke nutzte. Ich lernte, die zynische und eigennützige US-Außenpolitik zu kritisieren und erkannte Sontags Beitrag als nüchterne Einschätzung. Heute kann man unmöglich an diesen Tag zurückdenken, ohne eine Bilanz der seither ergriffenen politischen Maßnahmen zu ziehen ‒ die Ausweitung des Drohnenkriegs, die „Forever Wars“ und in jüngster Zeit, der Abzug aus Afghanistan.

Im Jahr 2001 schrieb Sontag: „Wollte man das Wort ‚feige‘ verwenden, dann vielleicht eher für diejenigen, die aus der Ferne, hoch oben aus der Luft töten.“

Heute ist die COVID-19-Pandemie das plötzliche weltgeschichtliche Ereignis, das Kinder prägt, das sie wochen- und monatelang von der Schule fernhielt und ihren Tagesablauf auf unvergessliche Weise unterbrochen hat. Sie müssen dieses Ereignis deuten und sich genau wie wir Erwachsene einen Reim darauf machen, indem sie darauf hören, was ihre Familien, ihr Freundeskreis und der ständige Strom von Nachrichten, Gesprächen, Worten und Bildern im Internet dazu zu sagen hat. Misstrauen gegenüber der Regierung und den Medien, in diesem Fall seitens der politischen Rechten, hat in den Vereinigten Staaten zu einer niedrigen Impfrate geführt, was enorm viele Menschenleben gefordert hat. Mir als junger Erwachsenen hat die Reflexion über die letzten zwei Jahrzehnte bewusst gemacht, wie wichtig es ist, das Signal aus dem Rauschen herauszufiltern, um den 11. September 2001 sowie die Zeit davor und danach zu verstehen. Das unterstreicht für mich, wie wichtig es ist, auch die gegenwärtige Krise zu verstehen und darauf zu reagieren, sowohl im Inland als auch im Ausland.